Der Weg in die NBA führt für viele Basketballstars über eine Karriere am College. College-Sport ist in den USA riesengroß, die Sportler stehen schon früh im Fokus der Öffentlichkeit, manche Coaches sind regelrechte Stars. Doch ein Studium an einem der guten Colleges ist teuer, die Stipendien heiß begehrt. Beate Wagner erzählt in ihrem Buch, wie Coach Beilein von der University of Michigan zum ersten Mal Moritz und die Familie traf – bei einer Lammkeule in Berlin.
Die vierteilige Dokumentation The Wagner Brothers ist ab sofort in der ZDF Mediathek zu sehen.
Er kündigt seinen Besuch für Samstag an. Auf ein Lunch will er vorbeikommen, bei uns zu Hause. Hat er am Telefon was von Würstchen mit Sauerkraut gesprochen – wie so viele Amerikaner, wenn sie an deutsches Essen denken? Nein, hat er nicht. Auf jeden Fall bitte nichts Großes. Nur zwei Stunden. Und ein kleines, deutsches Bier. Das will er zusammen mit Axel trinken. Kein Problem, kriegen wir alles hin. We are excited! See ya soon. Bye!
Moritz schmeißt das Handy auf das schwarze Ledersofa. Schaut hoch zu uns. Reißt die langen Arme in die Höhe, lacht, schreit. Oh my god, ist das wirklich wahr? Wir tanzen durch unsere Küche. Raufen uns die Haare. Wir können es nicht fassen. John Beilein, der USA-weit bekannte College-Coach der Michigan Wolverines aus Ann Arbor, wird mit uns zu Mittag essen.
Er will Moritz kennenlernen, unsere Familie. Für nur 24 Stunden setzt der bekannte Mann sich ins Flugzeug. Detroit-Berlin, Freitag hin, Sonntag zurück. Er wird inkognito reisen, sagt er. Schließlich ist es Anfang Oktober 2014 – mitten in der Basketballsaison. Niemand soll wissen, dass John Beilein in der Welt unterwegs ist, um einen deutschen Spieler zu rekrutieren. Auf dem Amsterdamer Airport Schiphol erkennt man ihn trotzdem, erzählt die Basketballlegende uns später. Michigan ist überall. Aber das wissen wir damals noch nicht.
Der Samstagmorgen beginnt hektisch. Ich bin angespannt. Wenn Gäste kommen, mache ich mir meist Stress. Wie wird der Coach es bei uns finden? Ist alles aufgeräumt und sauber? Ich putze hier, räume da. Die Bude soll glänzen. Ich stopfe in jeden Schrank ein paar riesige Turnschuhe, über die man sonst im Eingang direkt fällt. Entsorge kleine Häufchen aus alten Stiften, Gummibärchentüten und Visitenkarten, die sich überall in der Wohnung angesammelt haben.Die Wohnung soll glänzen.
Axel ist schlauer, wenn es darum geht, seine Gefühlslage zu kaschieren. War er schon immer. Auch an diesem besonderen Tag weiß er zu verbergen, wie es in seinem Innern brodelt. Da ist Aufregung, Freude, eine große Traurigkeit, ein Schmerz, so erzählt er es mir später. Er widmet sich lieber dem Kochen. In der Familie ist Axel unser Experte für Stahlpfannen, Messer und Fleisch. Direkt nach dem Aufstehen wässerte er zunächst den Römertopf. Es dauert ein paar Stunden, bis der Ton Wasser zieht. Er schnippelt Lauch, Möhren, Knoblauch und Rosmarin. Er wäscht und trocknet die rohe Lammkeule und legt sie auf das Arbeitsbrett. Wenn Axel kocht, kommt man ihm am besten nicht in die Quere. Er kann sonst auch schon mal laut werden. Die Jungs schnappen sich den Ball. »Um zwölf sind wir zurück, safe«, sagen sie. »Okay, gut. Bis gleich.« Dann zischen sie ab Richtung Freiplatz am Wasserturm.
Ich bin beim Kochen die Frau fürs Drumherum. Ich zupfe den grünen Salat und decke den Tisch, dekoriere die Teller mit den essbaren Blüten, die ich extra am Tag zuvor gekauft habe. Ich schnippele Äpfel und backe damit die Tarte. Ich krame nach frischen Kerzen. Die Servietten stopfe ich in die Gläser, wie es früher meine Mutter getan hat, wenn Gäste zu uns nach Hause kamen. Axel drapiert das Fleisch auf dem Gemüse-Zwiebel-Knoblauch-Bett, versenkt die Spitze des Thermometers in dem Muskelklotz. Dann schiebt er die große Keule in den kleinen Ofen. Wir setzen uns kurz zum Verschnaufen an den gedeckten Tisch. Zart soll sie werden, die Keule, unvergesslich zart. So wie Coach Beilein noch nie eine Lammkeule gehabt hat. Nach Provence soll sie schmecken. Wir wollen alles richtig machen.
Der Headcoach hat sich für zwölf Uhr angekündigt. Moritz steht – gerade vom Werfen draußen zurück – am Wohnzimmerfenster. Er schaut vom vierten Stock unseres Altbaus runter auf die Straße mit dem Kopfsteinpflaster. Seine rechte Wange drückt er dabei fest an die Scheibe. Nur so lässt sich die Straße bis ganz unten zur Ecke mit dem Weinladen einsehen. »Da kommt er, eine schwarze Limousine, sie biegt jetzt um die Ecke«, schreit er in Richtung Küche. »Franz, Franz, schnell!« Der Schlaks tänzelt jetzt regelrecht vor Aufregung.
Franz rennt zum Fenster, ich hinterher. Schließlich fahren nicht so oft elegante, schwarze Autos mit Chauffeur am Steuer bei uns vor. Wir stehen in einer Reihe am Fensterbrett. Jetzt sehe ich es auch: Ein schweres Auto brettert regelrecht unsere Straße hoch und hält vor unserer Haustür. Die hintere Tür öffnet sich. »Jetzt steigt er aus. Er ist es wirklich!«, schreien die Jungs im Chor. Ich bin schon wieder bei meinen Servietten. Die Jungs stehen weiter gemeinsam am Fenster. Der große hinter dem kleinen. Beide blond, barfuß, in Basketballshorts. Sie halten sich aneinander fest. Sie schauen still hinunter. Tänzeln immer noch vor Aufregung.
Dieses Bild hat sich in meinen Kopf eingebrannt. Es steht für einen Moment, in dem sich ein Abschied ankündigt, von einer Kindheit mit Sommern am Liepnitzsee, Urlauben in der Toskana mit Freunden, Camping mit Oma und Opa, Pizza beim Due Forni in der Schönhauser Allee, Basketballturnieren in der deutschen Provinz. Es geht etwas zu Ende in unserem Adlerhorst. Das macht mich – trotz des freudigen Anlasses – gerade sehr traurig.
Ich habe diese beiden Kinder bekommen. Sie werden immer bei mir bleiben. So war mein Gefühl. Als die Jungs an diesem Samstag am Fenster stehen, verstehe ich, dass das nicht stimmt. In meiner Kehle wird es eng. Dann höre ich die Klingel. Moritz schlüpft in seine Schlappen, eilt die Treppe hinunter. Wenig später kommt er gemeinsam mit unserem Gast im Fahrstuhl wieder hoch. »Coach, ich bin so happy, dass du da bist«, höre ich ihn auf der Treppe draußen. Moritz‘ Stimme klingt ganz ähnlich tief wie die von Axel. »Was für eine Ehre. Mein Vater wartet auch schon, er hat ein tolles Essen gekocht.«
John Beilein tritt in den Raum. Der damals Anfang 60-Jährige ist mittelgroß und gut in shape. Er trägt ein blau kariertes, gebügeltes Oberhemd, das Michigan-M links auf der Brust. Das graue, leicht schüttere Haar frisch gekämmt. Die beige Chino-Hose sitzen locker auf der Hüfte. Unterm Arm hält er ein I-Pad. Ohne dass wir ihn darum gebeten hätten, hat er seine braunen Lederschuhe ausgezogen. So steht er jetzt da, in gelben Socken und mit einem breiten Schmunzeln über das Gesicht. Er ist wach, neugierig, und seine blauen Augen leuchten.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich ihn treffen muss, wenn ich ihn rekrutieren will«, erzählt Beilein später amerikanischen Journalisten. »Als ich ankam, fuhr ich mit Moe im Aufzug hoch in das Appartement. Es war der kleinste Aufzug, in dem ich je gefahren bin. Als wir oben ankamen, hatte ich mich entschieden: Wenn dieser Junge wirklich spielen kann, will ich ihn in meinem Team haben.«
John Beilein scheint sich sofort bei uns wohlzufühlen. Er freut sich über Moritz´ Erscheinung. »Großartig, dass Moritz wirklich so lang ist, wie er versprochen hat.« Er ist wirklich ein typischer US-amerikanischer Coach, denke ich. Die, so hatte ich gelesen, sind nämlich oft skeptisch gegenüber europäischen Basketballern. Europäische Spieler kündigten sich wohl oft als weit über zwei Meter an. Beim sogenannten Official Visit gebe es dann oft eine große Enttäuschung. Dann messen die Rekruten selten mehr als 6,4 Feet, was etwa 1,95 Zentimeter entspricht. Der Official Visit ist ein Wochenende, zu dem College-Teams einen potenziell interessanten Basketballer auf Kosten der Uni einladen. Der Spieler lernt das Team, das Programm und den Campus kennen. Danach bietet das Team ihm ein Athletenstipendium an – oder eben nicht.
Den ersten Small Talk haben wir unfallfrei überstanden. Trotzdem sind wir noch mindestens eine Lammkeule von Moritz´ Official Visit und einem Athletenstipendium entfernt. »Coach, wir alle in der Familie sind Michigan-Fans«, richtet Moritz sich mit strahlenden Augen wieder an John Beilein. »Und jetzt stehst Du in meiner Küche!«
Das ist wirklich außergewöhnlich, nicht nur für uns. Es ist nicht üblich, dass ein Headcoach mehr als 6800 Kilometer zurücklegt, einzig um einen Spieler kurz zu treffen. Er durfte Moritz nämlich nicht einmal spielen sehen, er darf die Halle nicht betreten. Das verbieten die Regeln der College-Liga. Es geht nur darum, sich kennenzulernen. Coach B. – wie er kurz genannt wird – scheint das bis jetzt zu reichen. Wir sitzen zusammen und quatschen. Die erste Scheu verfliegt. Unser Englisch ist noch mehr als holperig.
Doch Beilein ist Profi. Er coacht seit den 1980er Jahren – übrigens immer nur als Head Coach. Mittlerweile ist er Anfang 70 und arbeitet als Senior Advisor for Players Development bei den Detroit Pistons. Er hat in seiner Laufbahn sieben College-Teams geführt, vier davon auf höchsten College-Basketball-Niveau, der NCAA Division I. Er hat schon etliche junge Basketballer rekrutiert. Er ist weltweit dafür bekannt, Talente zu entdecken, die »unter dem Radar« laufen. Coach Beilein hat also schon alles gesehen, kann Familien lesen, Mütter verzaubern, Situationen einschätzen. Er ist geduldig und höflich, und er weiß genau, was er will und sucht. Er ist einFamilienmensch und hat vier erwachsene Kinder und mehrere Enkel.
Wir sitzen mit unserem amerikanischen Gast zusammen am Tisch und essen. Das fühlt sich gut an, fast familiär. Coach B. beobachtet genau, was um ihn herum passiert. Ich spüre, dass er mag, was er sieht, was er fühlt. Die Atmosphäre stimmt. Nur ist mir aufgefallen, dass er viel redet und wenig isst. Er stochert eher mit der Gabel im Lammfleisch herum. Ich frage mich, warum er das tut.Das Fleisch ist doch wunderbar zart! Es gibt nichts auszusetzen an Axels Kochkünsten. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Anders als angekündigt ist sein Interesse an dem Lunch zusammengeschrumpft auf das Häufchen Kartoffelpüree, das er schließlich isst. Selbst ein Bier will er nicht – und dabei sind wir bestens vorbereitet: Im Kühlschrank stapeln sich Flaschen einiger der besten deutschen Brauereien.
Das Essen ist Nebensache, das Bier egal. Ich versuche, mich zu entspannen. Vielleicht isst er einfach generell nicht so gern? Oder ist es noch zu früh? Oder ist er seit zwei Wochen Vegetarier? Wir erfahren erst Monate später aus der Zeitung, warum Coach Beilein an diesem Samstag so gut wie nichts zu sich nimmt: Er hasst Knoblauch. Es wird ein Running Gag. Eine Geschichte, wie Journalisten sie lieben. The german garlic meal!
Doch wir haben Glück, und der Lunch ist tatsächlich nur Rahmenprogramm für Coach Beilein. Er hat den Kopf ganz woanders, denn er ist auf Werbetour und will sein College-Basketball-Programm vorstellen – eines der besten im ganzen Land. Er will schauen, ob Moritz in sein Team hineinpasst.
Moritz kennt Coach Beilein und sein Team, die Michigan Wolverines, bisher nur aus dem Internet. Er hat ihn das erste Mal bei einer NCAA-Championship im Jahr 2013 gesehen. Die NCAA-Championship ist das jährliche Finale der US-amerikanischen Colleges, einer der sportlichen Höhepunkte in den USA. Die Michigan Wolverines verloren damals mit sechs Punkten gegen Louisville. Axel und Moritz saßen mit dem Laptop auf dem Sofa und fieberten wild mit. Auch in dem darauffolgenden Jahr sind die beiden Fans der Wolverines aus Michigan. 2014 schafft es das Team sogar bis ins Elite Eight gegen Kentucky. »Da musst du hin. Die Leute, die Stimmung, das Spiel, das ist der Wahnsinn«, ruft Axel Moritz schon damals zu.
Nun sitzt Coach Beilein in bester Stimmung mit Moritz und Franz auf unserem Sofa. Er hält sein Tablet auf dem Schoß, wischt mit seinem Stift über den Bildschirm, markiert gelbe Kreise, erläutert Spielzüge. Seine Beine liegen ausgestreckt auf dem Sofa, so als wäre er zu Hause. »Go blue«! lese ich auf den gelben Fußsohlen. Der Slogan der Michigan Wolverines.
Es fühlt sich surreal an – und gleichzeitig stimmig. Alles ist viel weniger fremd, als ich erwartet habe. Ich habe fast das Gefühl, als sei dieser Mann schon einmal bei uns gewesen. Ich versuche mich nicht beirren zu lassen und trotz der Freude ein wenig Distanz halten. Wahrscheinlich hat Coach Beilein bei allen Müttern einen Schlag. Schließlich ist er Vollprofi. Er weiß, wie man Mütter dazu bringt, den geliebten Sohn in seine Hände zu geben. Auf den Trick will ich nicht reinfallen. Mich überzeugt schließlich etwas anderes: Coach B. erzählt auch von sich, ist väterlich und zugänglich. Er interessiert sich für Deutschland, was die Jungs in der Schule lernen, wo wir in den Urlaub hinfahren, wie alt die Häuser im Prenzlauer Berg sind, solche Sachen. Ein bisschen erinnert er mich an meinen Vater. Das beruhigt mich, und ich beschließe, ihm zu vertrauen.
Nach drei Stunden »Special Official Visit in Berlin« steigt Coach Beilein wieder in die Limousine. Die Jungs stehen wieder oben am Fenster. Axel und ich räumen die Küche auf. Wir sprechen nicht viel. Jeder ist vertieft in seine Gedanken. Wahrscheinlich haben wir alle ähnlich gemischte Gefühle. Aus einem Traum ist in wenigen Stunden ein realistisches Szenario geworden. Im März 2015 reisen wir zum ersten Mal nach Ann Arbor zu Moritz´ Official Visit. Kurz darauf bietet Coach Beilein ihm ein Vollstipendium über vier Jahre an.
Silke Mayer im Gespräch mit Beate Wagner: Wenn Du wissen willst, wie Beate die Zeit mit ihren erwachsenen Söhnen in Orlando erlebt hat und welches Projekt sie als Nächstes angeht, dann höre Dir das Gespräch hier oder hier als Podcast an.
Beate Wagner ist Ärztin (Studium der Humanmedizin an der Charité in Berlin), Wissenschafts- und Medizinjournalistin und Mutter von Moritz und Franz. Seit über 20 Jahren schreibt sie über Gesundheit, Psychologie, Medizin, Ernährung und Sport. Zudem ist sie Achtsamkeitstrainerin. Sie beschäftigt sich mit Themen wie Potenzialentwicklung, Talentförderung, Mentaltraining, Sport- und Persönlichkeitspsychologie. Privat liebt Beate Wagner Laufen, Wandern, Yoga und Meditation, in der Welt unterwegs sein und lesen. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Berlin.
Beate Wagner, Moritz und Franz Wagner: Glanz in ihren Augen.
Ariston Verlag, München 2024