Es war klar, dass dieser Tag kommen würde. Mein halbes Leben lang habe ich Dirk Nowitzkis Karriere begleitet, erst selbst als Basketballer, dann aus solidarischer Distanz, später als Sportreporter und schließlich als Autor dieses Buches. Knapp sieben Jahre ist es jetzt her, dass ich zum ersten Mal über Dirk Nowitzki geschrieben habe, seitdem sehe ich ihm bei der Arbeit zu.
Dirk Nowitzki und ich haben in zahllosen Hotelzimmern gesessen, auf Autositzen und Kabinenbänken, auf einer Kuhweide in den slowenischen Alpen, im Kinderzimmer seiner Tochter in Preston Hollow, in Arztpraxen, auf Terrassen und Filmsets, in Stadien und staubigen Turnhallen. Wir waren in San Francisco und Los Angeles, Kranjska Gora und Warschau, Randersacker und Schanghai. Wir haben über Basketball geredet und über alles andere, über unsere Eltern, die Kinder, über Bücher und unsere alten Knochen. Wir haben sogar einmal zusammen trainiert. Ein paar seiner Meilensteine habe ich mit eigenen Augen gesehen, und von den anderen habe ich mir erzählen lassen. Ich habe zugesehen, wenn die Scheinwerfer erloschen waren und Dirk Nowitzki trotzdem weiter seine Sache machte: Er spielte Basketball.
Bei seinem 30.000sten Karrierepunkt habe ich neben Holger Geschwindner auf der Tribüne gesessen und war zutiefst gerührt. Vom Erreichten, vom Geleisteten und von der Liebe, die Dirk entgegenschwappte. Weil ich dort saß und weil ich in dieser Sekunde ahnte, was es Dirk Nowitzki gekostet haben muss, dorthin zu kommen, wo er jetzt war. Ich saß dort und wusste, dass ich diesen Moment beschreiben würde. Ich wusste aber auch, dass – egal wie gut und packend mir das gelänge – meine Worte immer hinter dem Dirk Nowitzki dieser leuchtenden Momente herlaufen würden, sich nach ihm strecken, nach seiner Geistesgegenwärtigkeit, der absoluten Beherrschung seiner Mittel. Seine Verteidiger konnten nichts ausrichten, und auch meine Sätze würden immer ein Sekundenzehntel zu spät kommen.
Nowitzkis Welt ist eine Blackbox, ein geschlossenes System mit einer eigenen Denkweise und einer eigenen Sprache. Sein Umfeld ist verschwiegen und diskret, und wenn man seine Leute kennenlernt, wird man sie nicht mehr los.
Dirks Terminkalender ist immer rappelvoll gewesen, jedes Jahr war bis auf die Minute durchgetaktet. Wenn er aus Zeitgründen nicht sprechen konnte, habe ich mit den Menschen geredet, die ihm wichtig sind, und mit vielen anderen, denen er etwas bedeutet. Ich habe versucht zu begreifen, was ihn von all den anderen Basketballspielern unterscheidet. Von allen anderen Sportlern. Was ihn besonders macht.
Ich habe ihn nie um ein Autogramm gebeten, wir haben nie ein Selfie gemacht, ich habe mit Dirk an Tischen in Restaurants gesessen, habe Wein bestellt, während er beim Wasser geblieben ist. Wir sind zusammen geflogen, gefahren, spaziert. Einmal bin ich in Oklahoma City wegen Dirk in eine Schlägerei geraten. Ich habe meine journalistische Unabhängigkeit aufgegeben, um das System Nowitzki zu verstehen. Meine Töchter sind während der Recherche zu diesem Buch geboren worden, und wenn man sie fragt, was ich beruflich mache, sagen sie: »Dirk Nowitzki«.
Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich mit Dirk Nowitzki zu seinem letzten Heimspiel fahren würde, ich hatte mir diese Szene immer wieder vorgestellt und skizziert. In den vergangenen Jahren haben wir oft nebeneinander im Auto gesessen, er am Steuer, ich mit meinem Notizbuch auf dem Beifahrersitz. Wenn ich mir in den letzten Jahren den heutigen Tag ausgemalt hatte, saß ich immer im Auto und schrieb mit, wenn Dirk Nowitzki und sein Mentor, Coach und Freund Holger Geschwindner zu seinem letzten Heimspiel fahren. Auf der Rückbank, im toten Winkel, das Notizbuch auf den Knien. Aber an diesem 9. April 2019 fahre ich in einem ganz normalen Taxi zur Halle. Die beiden fahren allein, dieser Moment soll unbeobachtet bleiben.
Der Verkehr fließt zäh nach Süden, vorbei an den immer gleichen Gebäuden und Werbetafeln, an einem Nowitzki-Billboard, in der Ferne die Skyline von Downtown Dallas und die schneeweißen Bögen über den Trinity River. Der Reunion Tower. Irgendwann verlässt der Wagen den Highway, ich notiere den künstlichen Wasserfall oberhalb der Straße, die Werbung für Coors Light.
Während ich mich dem American Airlines Center nähere, wird mir klar, dass diese Haltung genau der Grund ist, warum Dirk Nowitzki so erfolgreich werden konnte: Er und Geschwindner sind nie unterwegs gewesen, um die Wünsche und Vorstellungen der anderen zu erfüllen. Und sie sind es auch heute nicht.
Das Taxi fährt unter der ramponierten Brücke in der Senke der North Houston Street durch, den Harry Hines Boulevard entlang und biegt dann auf die Olive Street. Dann das American Airlines Center. The house that Dirk built. »Es ist genau richtig, wie es ist«, notiere ich. »Manchmal müssen die Türen geschlossen bleiben und die Rückbank leer.«
Als ich an der Halle aus dem Taxi steige, liegen Wehmut und Feierlichkeit in der Frühlingsluft. Schon wieder, es ist fast wie im letzten Jahr: Die Saison der Dallas Mavericks ist seit einigen Wochen bedeutungslos, seit einigen Monaten, wenn man ehrlich ist, aber erst heute spielt das Team sein letztes Heimspiel, wieder gegen die Phoenix Suns, immer noch das schlechteste Team der Liga. Heute Abend geht es sportlich um nichts mehr, aber die Fans drängen sich schon drei Stunden vor Spielbeginn auf der Plaza vor der Arena. Was anders ist: Vor einem Jahr hat Dirk seine Entscheidung verkündet, noch ein Jahr dranzuhängen.
Dirk Nowitzki hat sein Karriereende noch nicht offiziell verkündet, aber vor der Halle ist alles darauf vorbereitet. An jeder Straßenlaterne hängen Flaggen mit seinem Gesicht, sein Lebenswerk in Zahlen und Bildern: Meister 2011, Platz 6 der ewigen Scorerliste, 14-facher Allstar und so weiter und sofort. Als erster Spieler in der Geschichte der Liga ist er seit 21 Jahren für denselben Klub aktiv, die Dallas Mavericks, auf einem riesigen Banner an der Frontseite prangt ein mehrere Stockwerke hohes Bild von Nowitzki, darunter der hochmoderne Slogan: »41.21.1.«
Dirk Nowitzki: Die 41 auf dem Trikot.
21 Jahre auf dem Buckel.
1 Klub.
»The Great Nowitzki« ist überall im örtlichen Buchhandel erhältlich. Oder direkt online zu bestellen. 512 Seiten, mit 60 Fotografien von Tobias Zielony, erschienen im Verlag btb/Random House.
In den letzten Tagen haben die Spekulationen seltsame Blüten getrieben. Könnte die Eins am Ende bedeuten, dass er vielleicht doch noch nicht aufhört? Dass Dirk Nowitzki noch ein weiteres Jahr dranhängt? Dass es weitergeht? Alle hier rechnen mit dem Ende, aber wirklich begreifen können es die wenigsten.
Viele Fans kommen von weit her, aus Deutschland und China, sie tragen selbst gemalte Schilder und Kostüme, manche sind zum ersten und vielleicht letzten Mal hier. Viele der Leute aus Dallas kennen ihre Stadt nicht ohne Dirk, viele sind mit ihm erwachsen geworden, und nur die Älteren wissen noch, wie es hier in der Vor-Dirk-Ära einmal ausgesehen hat. Clinton war Präsident, es gab keine Smartphones, »I Don’t Want to Miss a Thing« von Aerosmith war auf Platz eins der Charts. Die Stadt war eine andere, wo jetzt das AAC steht, war damals eine riesige Brache. Die Türen öffnen zwei Stunden vor Spielbeginn, aber man solle besser früher erscheinen, stand in der Zeitung.
Ich sehe mich auf der Plaza vor der Halle um. Am Straßenrand stehen die Fans Spalier, sie warten auf Dirk, obwohl sie nicht wissen, mit welchem Auto er kommt und auf welchem Weg. Victory Avenue, Olive Street. Fast alle tragen Dirk-Trikots, Dirk-T-Shirts, historische und aktuelle. Sie haben Schilder gemalt, um sich zu bedanken und ihren Respekt zu zeigen, ein paar haben Blumen mitgebracht. Als dann der Wagen tatsächlich um die Ecke biegt, erkennen die Leute ihn sofort und beginnen sein Lied zu singen, ein wehmütiger Jubel, ein Wirrwarr aus allen möglichen Gefühlen.
Dirk hält nicht an, sondern lässt den Wagen langsam in den Bauch der Halle hinunterrollen. Silver Garage. Ich sehe dem Range Rover nach. Alles wird so sein wie immer: Dirk wird den Motor ausmachen, wie immer, so sind die Vorschriften. Ein Bombenspürhund wird den Wagen beschnüffeln, wie vor allen Spielen, der Security Guard wird Dirk schweigend die Faust hinstrecken, die alte Dame am Gate wird ihm einen Handkuss zuwerfen. So war es immer, all die Jahre ist es so gewesen. »Thanks, my boy«, wird sie sagen, als wäre Dirk ihr Lieblingsenkel. »Thank you for winning tonight!«
Auch am Presseeingang, am Sicherheitscheck, im Aufzug hinunter in die Katakomben ist alles vorbereitet, auch hier liegt eine eigentümliche Feierlichkeit in der Luft. Die Dame, die den Lift bedient, trägt heute ein T-Shirt mit der 41. Als Nowitzki und Geschwindner den Wagen abstellen, erwarten sie Scott Tomlin und 200 Arena-Mitarbeiter, vielleicht 300. Security, Pommesverkäufer, Putzkräfte und Techniker. High fives, Fistbumps, Dirk kennt viele dieser Gesichter seit Jahren, und ihr Jubel rührt ihn. Geschwindner bleibt sitzen und sieht Dirk nach, wie er sich langsam durch das Spalier arbeitet.
Am Aufgang zum Ladedock haben sie einen blauen Teppich auf den nackten Beton geklebt, damit Dirk heute auf angemessene Weise zur Kabine schreiten kann, vorbei an den Kameras und Fotografen. Ich sehe zu, wie er an uns vorbeiläuft. Er scheint gut gelaunt.
»Finals!«, ruft er. »Aaaah!«
Dirk Nowitzki verschwindet in der Kabine und aus unserem Blick. Was er nicht weiß: dass in diesem Moment vier Ebenen über ihm seine Jugendidole Charles Barkley, Larry Bird und Scottie Pippen eine VIP-Box beziehen und ihre Drinks auf ihn erheben. Shawn Kemp ist auch da. Und Detlef Schrempf, der beste deutsche Basketballer, den es je gegeben hat. Bis Dirk kam.
Hinter Dirk Nowitzki liegt eine anstrengende Saison, besser: eine Tortur. Die Knöcheloperation im April ist zunächst gut verlaufen, es gab Hoffnung, dass es schnell besser werden würde. Wurde es aber nicht. Stattdessen kamen Entzündungen und Komplikationen, die Genesungsgeschichte war kompliziert und langwierig. Während der ersten 26 Spiele der Saison hat er im Anzug am Spielfeldrand gesessen und zugesehen, wie die nächste Generation um das Übertalent Luka Dončić übernimmt. Er hat den Jubel gehört und beobachtet, wie Dončić seine Nachfolge angetreten hat. Er hat ihn dabei unterstützt. Dirk hat wie besessen an seinem Körper gearbeitet, um noch einmal zurückkehren zu können. Er hat sich alle zwei Tage Nadeln in die geschundenen Muskeln stechen lassen, Dry Needling, Massagen, das Biegen und Brechen der Physios. Überhaupt auf das Spielfeld zu kommen, hat irrsinnig viel Kraft gekostet, aber richtig ausgeheilt ist der Fuß nicht. Es hat für 6,6 Punkte und knapp 15 Minuten Spielzeit gereicht, Dirk hat versucht, jeden Tag bewusst wahrzunehmen. Jeden Flug. Jedes Hotel. Jede Arena. Jeden albernen Scherz in der Kabine.
Sein Karriereende hat Dirk sich immer anders vorgestellt, das weiß ich aus unseren Gesprächen, nämlich: leise und unbemerkt. Noch vor einem Jahr in San Francisco hat er in seinem Hotelzimmer gesessen und gesagt, dass er kein großes Trara wolle, als ich ihn nach seiner Vorstellung von den letzten Spielen fragte: »Einfach spielen und dann sagen: Das war’s«, hat er gesagt. »Danke schön. Keine Lust mehr. Der Körper kann nicht mehr. Habe alles gegeben. War ein Riesenspaß. Aber im Endeffekt möchte ich nicht, dass die Leute das vorher wissen.«
Jetzt aber doch das ganz große Trara. Am Ende ist Lametta. An den Türen der Arena hängen Hinweisschilder: »Tonight’s game will be using heavy amounts of pyro«, und unten in den Katakomben der Halle stehen Dutzende Kisten mit Krachern und Funkenfontänen. Auf jedem einzelnen Sitz der Halle liegen ein Pappschild mit Dirks strahlendem Gesicht, ein T-Shirt mit dem Slogan des Tages, »41.21.1«, dazu eine goldgefasste Erinnerungskarte. Die Merchandise-Stände verkaufen heute noch ein letztes Mal fast ausschließlich Dirk-Memorabilia. Courtside seats für dieses Spiel kosten mehr als 10.000 Dollar.
Die Mavericks hatten alle Hände voll zu tun mit der Organisation der Festivitäten, mit Lasershow und Pyrotechnik, mit dem unfassbaren Medienandrang. Die deutschen Journalisten sind alle noch einmal nach Dallas gekommen, weil sie alle ihre persönliche Geschichte mit Dirk haben. Jeder Einzelne. Für sie ist das vermutlich die letzte Reise nach Dallas, keine Redaktion wird sie je wieder hierherschicken. Auch sie müssen sich neu sortieren. Noch einmal wohnen sie in »ihren« Hotels, in denen sie all die Jahre gewohnt haben. Gehen in »ihre« Restaurants und Bars, laufen noch einmal »ihre« Laufstrecken, trinken noch einmal den »besten Kaffee der Stadt«. In der Brauerei in Deep Ellum kaufen sie T-Shirts und Trucker-Caps zur Erinnerung. Alle hoffen darauf, dass sie Dirk noch einmal exklusiv vor die Kameras bekommen. Er gehört ihnen, sie wollen sich verabschieden. Den Amerikanern geht es ähnlich, aber die Deutschen sind die nostalgischeren. Die melancholischeren. »Die deutschen Journalisten sind die anstrengendsten«, lacht Scott Tomlin vor der Kabine der Mavericks. Vermutlich meint er mich, will es aber nicht direkt sagen.
Ich bin heute zum letzten Mal in dieser Halle, denke ich, als ich aus dem Spielertunnel in das Scheinwerferlicht trete. In einer Stunde wird Dirk diesen Weg nehmen, alles ist vorbereitet. Das Parkett glänzt. Auf dem Spielfeld werfen sich bereits ein paar junge Mavericks ein, die Kameracrews bauen ihr Equipment auf, auf dem Jumbotron über ihren Köpfen läuft der deutsche Dokumentarfilm Der perfekte Wurf in voller Länge. Im Film ist Dirks Vater zu sehen, seine Mutter, seine Schwester. Holger Geschwindner. Donnie Nelson, der General Manager. Alle erzählen, was sie mit Dirk verbindet.
Die Fans und Journalisten, die Platzanweiser und Sicherheitsfrauen starren auf den Würfel. Alle sind hier, alle warten. Tausende Menschen und Tausende Versionen davon, wer Dirk Nowitzki eigentlich ist. Alle haben ihre eigene Fassung von seiner Geschichte, für jeden hat Dirk Nowitzki eine andere Bedeutung. Für den massigen Ordner mit dem Tic hinter dem Korb. Für den Fernsehmann Skin Wade am Spielfeldrand. Für das zwölfjährige Mädchen und seinen Großvater in Block 107, beide in Dirks grünem Vintagetrikot. Für mich. Wir alle glauben zu wissen, wie er ist.
Aber so einfach ist es nicht.
7:00 pm. Die Halle knistert wie vor einem Finalspiel, als die Spieler aus dem Tunnel kommen. Die Leute stehen und filmen jeden Wurf, den Dirk beim Aufwärmen nimmt. Als er einmal einigermaßen spektakulär dunkt, jubelt das Publikum wie sonst nur in der Crunch Time am Ende des Spiels. Die Halle will heute ihm gehören. The house that Dirk built. Um ihn herum nimmt seine Geschichte Platz: Robert Garrett, Mannschaftskamerad seit Kinderjahren, sitzt gegenüber der Mavericks-Bank. Dirks Blick sucht seinen Vater und seine Schwester, er sucht Geschwindner, seinen Freund und Trainer. Seine Frau Jessica.
Auf seinen eigens für das heutige Spiel hergestellten Schuhen prangt das rote Logo seines Würzburger Heimatvereins, der DJK Würzburg.
Und dann seine Halle. Das Spiel beginnt und alles läuft über Dirk. Ich schreibe mit, ich könnte aufzählen, wie viele Würfe er nimmt. Wie oft er trifft und von wo, aber dann wird mir bewusst, dass es heute nicht um Basketball geht. Es geht nicht darum, dass er die ersten zehn Punkte des Spiels erzielt, um seinen Fadeaway und seinen Trailer-Dreier. Es geht nicht um den Sieg. Heute geht es um Dirk Nowitzki. Und um uns.
Im zweiten Viertel erwischt es ihn. Auf dem Jumbotron wird ein Video eingespielt, das ihn bei seinen Besuchen in einer Kinderklinik zeigt. Seit mehr als 15 Jahren macht er diese Besuche, aber erst im letzten Jahr war erstmals ein Journalist dabei. Dirk sieht sich das Video an, und obwohl noch ein paar Minuten zu spielen sind, überkommt es ihn. Vielleicht ist es der getragene Tonfall, die rührende Stimme. Vielleicht wird ihm sein Glück bewusst. Dirk Nowitzki steht allein in der Mitte des Spielfelds, und als er seine Rührung nicht in den Griff bekommt, senkt er den Blick, die Arme auf die Knie gestützt. Die Halle kämpft mit seinen Tränen.
Irgendwann fängt er sich und bringt das Spiel zu Ende. Luka Dončić spielt aus einem Pick-and-Roll einen perfekten Pass auf Dwight Powell auf dem High Post, der steckt durch zu Dirk, und Dirk dunkt, und ich frage mich, ob wir gerade den letzten Dunk seiner Karriere gesehen haben.
Irgendwann passiert alles zum letzten Mal.
Nach Spielende fahren die Mavericks alles auf, was man auffahren kann, ohne es zu übertreiben. Es werde ein besonderer Abend, hat Teambesitzer Mark Cuban angekündigt, ganz gleich, ob Dirk das gefalle oder nicht. Coach Carlisle sagt ein paar rührende Worte, und als dann auf den Bildschirmen Bilder seiner Idole eingeblendet werden, sitzt Dirk auf seinem Platz auf der Spielerbank und guckt zunächst verständnislos. Scottie Pippen? Charles Barkley? Larry Bird? Schrempf? Kemp? Warum werden diese Superstars eingeblendet, diese Legenden, was haben die mit ihm zu tun?
Ein Sondereinsatzkommando hat seit Monaten an diesem Moment gearbeitet, in höchster Verschwiegenheit, Dirk durfte nichts mitbekommen und offenbar ist er tatsächlich ahnungslos. Als dann aber Barkley, Pippen und Bird einer nach dem anderen auf das Spielfeld geführt werden, dämmert es ihm. Neben ihm sitzt sein Mitspieler Devin Harris und kann seine Freude über diesen Moment kaum kontrollieren. Dirk beißt in sein Handtuch, um die Tränen zurückzuhalten. Die Legenden stehen in ihren Lichtkegeln, die Zeit schlägt eine Schleife: Dirk Nowitzki, 15 Jahre alt, in seinem Kinderzimmer in Würzburg-Heidingsfeld, ein Poster von Scottie Pippen über seinem Bett und eins von Charles Barkley an seinem Schrank. Und Dirk Nowitzki, vierzig Jahre alt. Einer von ihnen.
Dirk steht auf und wirft das Handtuch zur Seite, als würde er noch einmal eingewechselt werden. Er umarmt die Legenden ungelenk, er lächelt, und während sie ihre Abschiedsreden halten, steht Dirk gerührt daneben und hört zu.
»Man«, sagt Scottie Pippen. »You have been an inspiration to me.«
Und dann steht Dirk allein im Scheinwerferlicht. Wir alle sehen ihm zu. Die Arena ist komplett verdunkelt worden, nur die Notbeleuchtung funzelt. Dirk steht im Mittelkreis. Jemand drückt ihm ein Mikrofon in die Hand. Und dann sagt Dirk Nowitzki das, was wir alle wissen, aber nicht wahrhaben wollen.
Ich sehe in die ernsten Gesichter um mich herum. Viele weinen jetzt, und wer nicht weint, wird gleich zu weinen beginnen. Wir alle haben unsere Nowitzki-Geschichten im Gepäck, unsere Dirk-Momente. Wir alle haben ihn scheitern sehen, wir sind selbst so oft gescheitert. Wir alle können uns erinnern, wo wir waren, als er 2011 Meister wurde. Sein Sieg fühlt sich immer noch an wie unser Sieg. Für die, die jetzt hier auf den Tribünen stehen, die in Europa vor ihren Rechnern hängen und in den Bars in Amerika am Tresen lehnen, ist Dirk Nowitzki eine beständige Begleitung gewesen, eine emotionale Konstante. Wir sind mit ihm erwachsen geworden, er ist das, was von unserer Jugend übrig ist.
Ob ich Dirk Nowitzki begriffen habe, kann ich bis heute nicht sagen. Aber als er allein im Mittelkreis seiner Halle steht, vor seinen Leuten, vor seiner Stadt, als er am Ende seiner langen, glanzvollen Karriere das Mikrofon ergreift, stehe ich oben auf der Tribüne neben Krenz, Ott, Bielek und allen anderen und halte den Atem an. Die Halle ist voll von uns: Freunde, Verwandte, Weggefährten. Seine Schwester, sein Vater, seine Frau. Unter uns liegt die Halle in dunklem Blau, nur Dirk leuchtet, und wir holen Luft.
»Ihr werdet es vermutet haben«, sagt Dirk Nowitzki. »Das war mein letztes Heimspiel.«
Dieses Buch ist keine Trainingsanleitung, keine Motivationsrede und kein Du-kannst-es-schaffen-wenn-du-nur-willst-Ratgeber. Dieses Buch ist die unwahrscheinliche Geschichte von Dirk Nowitzki, der von einem schmächtigen Jungen in Würzburg-Heidingsfeld zu einem Superstar in Dallas, Texas, wurde. Der 21 Jahre lang für einen einzigen Klub spielte, der zu einer Legende seiner Sportart wurde. The Great Nowitzki. Der das Spiel, das er liebt, geprägt und verändert hat. Der das mit einer kaum zu erklärenden Würde getan hat und ohne sich zu verraten.
Es ist auch meine Geschichte. Die Geschichte von einem, der an diesem Spiel gescheitert ist und der trotzdem nicht aufgehört hat, Basketball zu lieben. Das, wofür dieses Spiel steht. Solche wie mich gibt es viele. All diejenigen, die Dirk Nowitzki all die Jahre zugesehen haben, wie man einem alten Mannschaftskameraden zusieht, der es weiter gebracht hat als man selbst. Die sich immer noch fragen, wie jemand seine Sache so gut können kann, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren, nicht die Liebe zum Spiel und den Respekt vor den Menschen.
Ich habe Dirk Nowitzki und die Leute um ihn herum beobachtet – in aller Subjektivität, mit allen blinden Flecken des teilnehmenden Beobachters; ich habe mich verstrickt und verzettelt. Dieses Buch ist meine Suche nach Dirk Nowitzkis Bedeutung, seiner Besonderheit, seiner Akribie und Genauigkeit. Dieses Buch ist keine Biografie, dieses Buch ist mein Versuch, aus Dirk Nowitzki schlau zu werden.