Das erste Mal war 1988. Seoul. Ich war gerade zehn, und ich wusste nicht, wie man das ausspricht: Seoul. Natürlich erinnere ich mich an das Weltrekord-Rennen mit Ben Johnson und Carl Lewis. Die sind aus den Blöcken rausgeschossen, so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
Dann kam Barcelona 1992. Ich hatte gerade angefangen, selbst Basketball zu spielen. Das Dream Team mit Jordan und Barkley und den ganzen Leuten habe ich geliebt. Charles Barkley trug die Nummer 14. Ich hatte eigentlich immer die Nummer 11, wie mein Vater beim Handball. Aber als ich Charles Barkley in Barcelona gesehen habe, bin ich für immer zur 14 gewechselt. Ich habe jedes Spiel angeschaut. Auch die Deutschen mit Detlef Schrempf und Henning Harnisch und Rödl. Das war ein toller Sommer, wir haben uns damals auf jedes Spiel der Amerikaner gefreut. Das waren meine ersten Berührungen mit den Olympischen Spielen: der Hundertmeterlauf 1988 und das Basketballturnier 1992.
Das Schönste war damals, mit der Familie die Eröffnungsfeiern anzuschauen. Was das immer für ein Spektakel war! Da habe ich mich immer drauf gefreut: Wer entfacht das Olympische Feuer? Ich weiß noch, wie in Atlanta Muhammad Ali da oben stand. Und deswegen habe ich auch immer gesagt: »Wenn ich da einmal hinkomme, muss ich zur Eröffnungsfeier.« Das war für mich absoluter Kult.
Bei Olympischen Spielen lief ständig der Fernseher. Das sind tolle Erinnerungen. Sommer, die Balkontür stand offen und irgendwer hat Rasen gemäht. Ich habe alles geguckt. Marathon am Sonntagmorgen. Ringen. Schwimmen. Tischtennis. Du nimmst dir Zeit und schaust dir Sachen an, die du sonst nie anschauen kannst. Gewichtheben. Schießen. Genau das macht für mich den Reiz der Olympischen Spiele aus. Die großen Sportarten wie Fußball spielen für meine Olympia-Begeisterung fast keine Rolle. Die vermeintlichen Randsportarten machen für mich den Olympischen Geist aus.
Für einen deutschen Basketballer waren die Olympischen Spiele immer das Größte, was man erreichen konnte. Die NBA war weit weg, Geld war nicht wichtig. Mein Mentor Holger Geschwindner war 1972 in München dabei, als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Er hat mir wahnsinnig viele Geschichten erzählt, die meinen Traum geschürt haben. Der Kran von Schifferstadt! Heide Rosendahl! 1972 hatten die Amerikaner im Basketball gegen die Russen schon Gold gefeiert, aber dann hieß es: »Es sind noch drei Sekunden zu spielen.« Die Amis mussten nochmal aufs Feld. Und dann haben sie das Spiel noch verloren, ein langer Pass und ein Korbleger. In Basketballkreisen erzählen sie diese Story heute noch. »Nationalmannschaft ist ein tolles Erlebnis«, hat Holger immer gesagt. »Olympische Spiele sind ein einmaliges Erlebnis.«
Es war immer mein großer Traum, einmal dabei sein zu dürfen. 1996 in Atlanta war ich sogar vor Ort – als Zuschauer. Wir hatten damals ein Spiel gegen eine Highschool-Auswahlmannschaft in Savannah, Georgia. Ganz in der Nähe. Wir haben uns Tickets besorgt, und dann ganz weit oben im Georgia Dome gesessen, im allerletzten Rang, und haben uns ein Spiel der Griechen gegen die Australier mit Shane Heal und Andrew Gaze angeguckt. Die haben die Griechen damals ganz schön zerlegt. Das werde ich nie vergessen – ich bei den Olympischen Spielen! Das Drumherum, das Stadion, die Atmosphäre. ’88, ’92 und ’96 dann vor Ort in Atlanta. Das hat meinen Willen befeuert.
Es hat lange gedauert, bis dieser Traum Wirklichkeit geworden ist. Für Sydney 2000 hätten wir uns bei einer EM in Frankreich qualifizieren können und haben’s dann um einen Platz verpasst. Ich war damals wahnsinnig frustriert. Die Qualifikation für die Spiele in Athen 2004 lief über die Europameisterschaft in Schweden. Wir waren uns sicher: Das schaffen wir. Dann bin ich zwei Wochen vorher bei einem Vorbereitungsspiel mies umgeknickt. Ich konnte eine Woche lang nicht trainieren und bin nicht ganz fit und mit Schmerzen in das Qualifikationsturnier gegangen. Und dann haben wir gegen Italien verloren. Wieder keine Olympischen Spiele. Ich weiß noch genau, wie wir am nächsten Tag auf dem Weg zum Flughafen an der Arena vorbeifuhren, in der wir den Traum verpasst hatten. Dieses Bild ist immer im Hinterkopf. Die Frustration saß unglaublich tief.
Wenn ich an meine internationale Karriere zurückdenke, waren das die beiden größten Rückschläge. Du hast große Hoffnung, du verpasst die Qualifikation und wenn dann die Spiele beginnen, sitzt du zu Hause und schaust dir die Eröffnungszeremonie an. Sydney und Athen waren meine großen Enttäuschungen. Und desto more special war’s dann, als wir es 2008 geschafft haben.
Mein Traum hat sich aufgestaut: als Kind immer Olympische Spiele geschaut, dann zum ersten Mal verpasst, das zweite Mal verpasst. Und du musst immer vier Jahre auf die nächste Gelegenheit warten. Du hast nur drei, vielleicht vier Chancen.
2008 war ich topfit. Hatte lange und genau auf den Punkt trainiert, den ganzen Sommer lang jeden Tag dreimal. Wir haben ein körperliches und schwieriges vorolympisches Turnier gespielt, und am Ende ging es um alles: ein Do-or-die-Spiel Deutschland gegen Puerto Rico, mit meinem guten Kumpel J.J. Barea. Der Winner ging zu den Olympischen Spielen und der Verlierer war raus. Das war ein wahnsinniges Kribbeln, ein wirklich großer Druck. Und das bei einem Mittagsspiel vor fast leerer Halle in Athen, das wir am Schluss relativ locker gewonnen haben.
Als wir gewonnen hatten, ging’s mir noch ganz gut. Ich weiß noch genau, wie ich meinen Mitspieler Sven Schultze umarmt habe. Und auf einmal merke ich: Der Druck ist weg. Dann kamen die Tränen, ich konnte gar nicht mehr feiern, wollte nur noch aus der Halle. Ich bin dann raus, vorbei an den Puerto Rico-Spielern. »Was ist denn mit dem los? Warum feiert denn der nicht?« Ich habe mich vor der Umkleide auf den Boden gesetzt und die ganzen Gedanken gingen durch meinen Kopf: wie oft wir es nicht geschafft hatten. Das war das erste Mal, dass ich Erfolg gespürt habe. Es war überwältigend für mich. Jemand kam mit dem Schlüssel zur Umkleide, ich habe mich in den Physioraum gelegt. Langsam habe ich mich beruhigt und wollte gerade wieder raus zum Interview, aber dann kam mein Vater rein und hat mich umarmt und dann ging’s komplett wieder los. Das war für mich einer der überwältigendsten Momente meiner Karriere.
Der ganze Sommer war unglaublich. Wir waren die letzte Mannschaft, die sich für die Spiele in Peking qualifiziert hat, und die erste, die ins Olympische Dorf durfte. Direkt von der Anprobe in einer Kaserne bei Frankfurt sind wir nach Peking geflogen. Die Vorfreude. Ich werde nie vergessen, wie wir da einmarschiert sind mit unseren Deutschland-Rucksäcken und Anzügen. Das war schon ein unglaubliches Erlebnis.
Ich werde diese Tage nie vergessen. Mein Zimmerkollege war Robert Garrett. Mit dem bin ich aufgewachsen, den kenne ich schon mein ganzes Leben. Wir hatten ein winziges Zimmer, zwei Betten drin, ein winziger Balkon mit unserer dreckigen Wäsche. Das waren besondere Tage. In der Mensa sitzen und einfach nur Leute gucken. Athleten. Athletinnen. Ob das jetzt ein afrikanisches Frauen-Basketballteam gewesen ist, oder ein amerikanischer Leichtathlet aus Texas. Wir haben manchmal spätabends gespielt und sind danach noch in die Mensa. 10.000 Athleten unter sich. Timo Boll war zum Beispiel ein oder zwei Etagen unter uns. Wir haben uns ständig getroffen. Nach seinem Spiel kam er hoch zu uns. Oder ich bin mal runter zu ihm in seine WG. Er wusste viel über Basketball, wir haben viel geredet. Und daraus hat sich eine lange Freundschaft entwickelt, die fürs Leben lang hält. Solche Sachen sind natürlich schon toll. Das war eine großartige Erfahrung.
Ich habe versucht, soviel wie möglich mitzunehmen. Beim Handball war ich, beim Hockey war ich. Zum Beach-Volleyball bin ich raus, zum Strand, den sie da aufgeschippt hatten. Was habe ich noch alles gemacht? Leichtathletik, Bird’s Nest, Usain Bolt gesehen. An einem Tag wollten wir nachmittags nach dem Training an die Große Mauer fahren. Aber dann kam unser Teamleiter und hat gesagt: »Hey, Mauer fällt für dich aus, du triffst dich heute mit dem Chief of Staff der deutschen Delegation.« Ja, und dann saß ich da. Ich werde nie vergessen, wie der Delegationsleiter gesagt hat: »Was hältst du davon, wenn du die Fahne trägst?« Mir ist es kalt über den Rücken gelaufen. »Ich weiß, dass der Fahnenträger normalerweise jemand Verdientes ist«, habe ich gesagt. Ich wollte niemandem zu nahetreten. »Für mich wäre es eine Riesenehre, aber wenn es Leute gibt, die das mehr verdienen, dann…« Ich hätte den Olympischen Traum gelebt, hat er gesagt, ich hätte alles drangesetzt.
Bei der Eröffnungsfeier standen wir dann recht weit hinten. Wir mussten drei Stunden in einem Nebenstadion warten. Was machst du da? Wir haben uns die Zeit mit Geschichtenerzählen und Schulterklopfen vertrieben: »Wow, jetzt sind wir echt hier. Bei den Olympischen Spielen. Ein Leben lang haben wir davon geträumt.« Das war groß, nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten. Das Team, den Staff, die Doktoren. Die Coaches. Ich glaube, das war für alle, unsere Generation, ein einmaliges Erlebnis.
Als es dann endlich zur Zeremonie ging, hat mir jemand die große Fahne in die Hand gedrückt. Wir gingen durch einen Tunnel ins Stadion, fünfzig Meter durch die Katakomben, ehe man das Stadion betrat. Und dann waren wir dran. »Nächstes Land – Deutschland!« Und dann standen wir da in diesem dunklen Tunnel, das Licht vom Stadion vor uns, und plötzlich hat die ganze Delegation – 300 Leute oder mehr – angefangen zu singen: »Wir wollen die Fahne sehen!« Und dann habe ich mich umgedreht und die Fahne über das Team im Tunnel wehen lassen. Das treibt mir heute noch Tränen in die Augen. Das war eine unglaubliche Situation, diesen Moment werde ich nie vergessen. Und dann setzen sich alle in Bewegung und dann kommst du um die Kurve und siehst die Fans. Ich bin froh und glücklich, dass wir uns den Traum erfüllen durften.
Als ich heim nach Würzburg gekommen bin, bin ich erstmal in ein emotionales Loch gefallen. Du hast zehn Jahre darauf hingearbeitet. Und jetzt ist es vorbei. Ich musste mich eigentlich direkt auf die nächste Saison vorbereiten, aber ich war fast schon deprimiert. »Du arbeitest jetzt so lange an einer Sache«, habe ich gedacht. »Und dann ist es innerhalb von zwei Wochen vorbei und dann soll’s das gewesen sein.« Nach so einer unglaublichen Erfahrung muss man sich erstmal wieder neu motivieren.
Was kann ich euch mit auf den Weg geben? Klar: Holt alles aus euch raus, versucht so gut wie möglich abzuschneiden. Auch, wenn die Spiele von Tokio unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie bestimmt ganz anders werden als alle davor: Macht trotzdem eure Augen auf. Guckt nach rechts und links. Saugt das Besondere auf! Bei aller Disziplin, bei allem Ehrgeiz – diese Momente sind schnell vorbei. Geht zu anderen Events, wenn die Regeln es zulassen. Schließt Freundschaften in der Kantine. Seht den SportlerInnen aus der ganzen Welt zu. Das ist für mich das Große an den Olympischen Spielen. Zu anderen Events zu gehen, über den Tellerrand hinausgucken. Du wohnst im selben Haus, vielleicht trifft man sich im Aufzug. »Bis gleich, ich komme nachher zu deinem Halbfinale.« Und dann feuerst du die da an. Das schweißt zusammen. Das war für mich das Entscheidende bei den Olympischen Spielen. Vergesst nicht, diese Zeit zu genießen!
Seit drei Jahren begleitet das 2020magazin die deutschen Stars bei ihrer Vorbereitung auf die Olympischen und Paralympischen Spiele von Tokio. Ab sofort liegt das Magazin bundesweit am Kiosk oder ist unter 2020magazin.de erhältlich.